Weißer Lotus


Hasakis Geschichte - 10 Jahre zuvor

Der lose Kiesweg raschelte bei jedem meiner Schritte und war im Grunde das einzige Geräusch abgesehen von dem beständigen Wind, welches zu hören war. Die gähnende Leere in dieser Gegend wäre beinahe beängstigend, wenn die schöne Aussicht nicht wäre. Weite unbeschwerte Felder zogen sich bis über den Horizont, reich mit allen möglichen Blumen bewachsen und den hellen Strahlen der Sonne, welche den Frühling hervorhoben. 

Ohne, dass ich es wirklich selbst bemerkte, kamen meine Schritte langsam zum Stehen, als meine Ohren ein entferntes, helles Kinderlachen vernahmen. Blinzelnd blickte ich ins Feld auf der Suche nach der Quelle, doch es war weit und breit nicht zu sehen. Keine Kinder. Keine einzige Menschen Seele. Das nächste Dorf sollte noch ein gutes Stück entfernt sein, doch das hieß ja noch lange nicht, dass hier niemand sein könnte.

Ein Rascheln der Blätter und erneut dieses Lachen. Ich wirbelte herum, um dem weiblichen Lachen zu folgen. Bei der ruckartigen Bewegung rutschte mein großer Rucksack in dem mein ganzer Besitz lag von meiner Schulter und fiel mit einem Rascheln im Kies zu Boden.

Ich konnte keine Gefahr spüren, denn sonst wäre wohl mein Katana längst gezückt. Nein, das war nichts Gefährliches. 

"Hasu."

Der Name verließ meine Lippen so leise, dass es nicht mal als Flüstern hätte zählen können. Dennoch fühlte es sich so an als würde der Wind die einzelnen vier Buchstaben hinaus über das Blumenfeld tragen, auf der Suche nach der Eigentümerin dieses Namens.

Doch die Eigentümerin war nicht mehr hier. Würde nicht mehr auf meinen Ruf reagieren können.

Ich fuhr mir durch das schwarze Haar, das mir wild um den Kopf fiel und eigentlich mal wieder geschnitten werden musste.

Wie hatten es meine Gedanken geschafft schon wieder zu diesem Tag abzuschweifen? Gerade hier, wo es doch eigentlich nichts geben sollte, dass mich daran erinnerte.

Unruhig bildete meine rechte Hand immer wieder eine Faust und öffnete diese wieder, um meine Anspannung ein wenig zu verlieren.

*Nicht kratzen.*

Der Gedanke hallte immer und immer wieder durch meinen Kopf und verursacht ein regelrechtes Brennen auf meinem rechten Handrücken. 

*Nicht kratzen.* 

Wütend kniff ich mein gesundes Auge zu und umfasste fest meine rechte Hand mit der linken. Ich wollte es nicht mal ansehen. Dieses Brandmal war regelrecht ein penetranter Schlag ins Gesicht der mich an all das erinnerte was ich verloren hatte. 

Mit einer schnellen Handbewegung griff ich nach meiner Tasche und setzte meinen Weg ungeachtet der Felder, der Stimmen und dem Jucken auf meiner Hand fort. 

Ich musste das nächste Dorf erreichen, bevor der Sonnenuntergang einsetzen würde. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, würde ich noch rechtzeitig ankommen, doch dann gab es noch die offenstehende Frage, ob ich denn wieder unter den Sternen schlafen würde. 

Ich hatte nicht mehr sonderlich viel Geld übrig und die Versuchung den Rest für ein wenig Sake auszugeben, statt für eine temporäre Unterkunft, war in meinen Gedanken förmlich zum Greifen nah. 

Der Alkohol und die Wärme die immer darauf folgte, würden mich ablenken.

Wahrscheinlich würde ich diese heute mehr brauchen, als eine warme Unterkunft in der Nacht.

Denn wenn ich in einem Zimmer in einem Bett lag und an die Decke starrte, würden die Erinnerungen nur noch schneller zurückkommen und wahrscheinlich würde ich sie dann nicht mehr verdrängen können.

Es war falsch zu sagen, dass sie mich noch immer verfolgten, aber auch gelogen, wenn ich sagte, dass ich es hinter mir gelassen hatte.

Seit 10 Jahren kämpfte ich nun mit meiner Vergangenheit und ich hatte mich arrangiert. Ich fiel nicht mehr ständig in das Flammenmeer meiner Erinnerungen.

Doch wenn es geschah... dann kam ich da auch nicht mehr raus.

Ich wusste nicht genau wann die Sonne den Himmel in ein rot-orangenes Meer getaucht hatte, während ich in meinen Gedanken versunken war. Ich schluckte schwer bei dem Anblick des Sonnenuntergangs der den Horizont in flüssiges Feuer tauchte.

Mein Kiefer verspannte sich sichtlich, als ich erleichtert feststellte, dass sich einzelne Dächer auf der anderen Seite der Hügel vor mir auftaten. 

Zivilisation. Zum Glück.

So war ich wenigstens in der Lage mich in einer Spelunke rumzutreiben, solange der Zapfenstreich noch nicht ausgerufen wurde.

Der Kies verlief in einen festgetrampelten Pfad aus Erde und ersetzte das Geräusch des losen Kieses durch die leisen Schritte einiger Bewohner, welche noch auf den dreckigen Wegen unterwegs waren. Es schien nicht das größte aller Dörfer zu sein, was mich nur wenig wunderte so weit abseits der Stadt, der Metropole Tokios, wo ich unterwegs war.

Aber ich hoffte darauf, dass es groß genug war, um wenigstens etwas wie eine Bar, oder einen anderen Platz, an dem man Alkohol fand, zu haben. Ich hatte auch schon die Erfahrung machen müssen, dass es solche Gebäude in einigen Dörfern nicht gab. Das war die Hölle gewesen.

Als ich das Dorf betrat, bekam ich einige schräge Blicke der Bewohner. Wahrscheinlich lag es an dem Katana, das ich an der Hüfte trug. Normalerweise legte ich es ab, wenn ich in eine Stadt ging, doch da ich gerade auf Wanderschaft war und eigentlich nicht lange hier bleiben wollte, ließ ich es einfach dort, wo es war.

Ansonsten trug ich hellgrüne Stoffhosen, die ich mit weißen Turnschuhen kombiniert hatte. Nichts Ungewöhnliches. Auch das weiße Gewand mit der olivgrünen Jacke sollte nicht der Grund für die Blicke sein. Vielleicht das braune Band, das ich als Gurt um mein linkes Bein gewickelt hatte, aber ich war mir fast sicher, dass dieses und das ebenfalls braune Band, das um mein Handgelenk gewickelt war, niemanden auffiel.

Ich ignorierte die Passanten großzügig, als ich eine junge Frau entdeckte, deren feuerrote Haare, die bleiche Haut unterstrichen. Ihre zierliche Figur, täuschte nicht über ihr jugendliches Alter hinweg und auch ihre schmalen, tiefbraunen Augen schienen als würde sie mich ansprechen wollen. Der Griff um den Träger des Rucksacks, der auf meiner Schulter lag verstärkte sich noch mehr und hinderte mich daran, umzudrehen, um das rote, vermutlich gefärbte Haar, der Frau nicht mehr sehen zu müssen. 

Ich wusste, dass es nur Haare waren, was auch sonst? Doch wieso musste es ausgerechnet rot sein? 

"Kann ich Ihnen helfen?", fragte sie, was wohl an mich gerichtet war, als ich stumm ohne sie eines Blickes zu würdigen an ihr vorbei laufen wollte. Ich hätte sie ignorieren sollen, doch ihre Schritte waren so schnell und lautlos, dass sie nun vor mir stand und zu mir empor blickte. 

"Nein... ich suche nur einen Ort wo es etwas zu Trinken und zu Essen gibt", antwortete ich eher mit einem Murmeln. Ich war im Moment nicht sonderlich gesprächig. Die Szenerie eben am Feld hatte mich zu sehr aus der Bahn geworfen, als das ich jetzt noch gesellig sein konnte, auch wenn ich es gern gewesen wäre.

Ich musste gestehen, dass ich nicht wirklich etwas zu Essen suchte, doch ich wollte ungerne auf den ersten Blick in einem fremden Dorf wie ein obdachloser Alkoholiker wirken.

"Dort drüben gibt es ein kleines Lokal", erwiderte die Frau und deutete in eine kleine Gasse an der ich wohl vorbei gelaufen wäre. 

Mit einem dankenden Nicken folgte ich ihrer Wegweisung, bevor sie noch etwas hätte erwidern können. 

Keine Zeit für Konversation.

Sie behielt Recht. Das Lokal war zwar klein, erschien aber gut besucht mit knapp zehn Leuten welche sich lautstark unterhielten, tranken, lachten und aßen.

Die Wärme der Öfen und der Geruch von Alkohol hieß mich in dem rustikalen kleinem Haus willkommen, welches mit einigen Papierlaternen geschmückt war, welche sehr stark an reduzierte Ware erinnerten, welche man zu bevorstehenden Feiertagen in jedem Handel kaufen konnte. 

Ein ziemlich billiger Ersatz im Gegensatz zu der traditionellen japanischen Kultur, doch was erwartete man auch vom 21sten Jahrhundert? 

Das Dojo hatte immer sehr viel Wert auf Traditionen gelegt und nie etwas derart schäbiges für ein Lichterfest genommen, doch hier galten wohl andere Regeln.

"Hör zu Kleiner, wenn du hier bleiben willst, dann will ich das Stück Stahl da lieber hier hinter der Bar wissen. Ich will hier keinen Ärger", begrüßte mich ein älterer Mann mit vollem Bart und keinerlei asiatischen Gesichtszügen. Dennoch war sein Japanisch unfehlbar, als wäre er damit aufgewachsen. 

Instinktiv schnellte meine Hand zu meinem Katana, um dies zu umklammern, als würde er es mir gleich aus der Halterung reißen wollen. 

"Kommt nicht in Frage", erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen. Dennoch war die Sorge nachzuvollziehen. "Ich kann es ablegen und hier zwischen uns liegen lassen. Wäre das ein Kompromiss?"

Der Mann verengte die Augen, als er mich musterte. Er schien nicht zu wissen, was er davon halten sollte.

„Bist du damit ausgebildet?“, wollte er schließlich wissen, denn auch Menschen, die nicht mit dem Schwert umgehen konnten, konnten eines mit sich führen.

„Ja“, war meine schlichte Antwort und ich wartete immer noch darauf, dass er auf meinen Kompromiss einging.

"Du legst keinen Finger an das Teil, bis du gehst", kam es kurz und knapp von ihm mit einem steifen Nicken, als er begann eines der nassen Gläser zu trocknen ohne mich aus dem Auge zu lassen. 

Ich löste den Gurt der Halterung von meiner Hüfte und legte das Katana vor mich auf die lange Bar welche vollkommen leer stand. Die Gäste waren alle an irgendwelchen Tischen und schienen sich lebhaft mit ihren Freunden und Liebsten zu amüsieren. 

Für diese Nacht würde wohl der Sake mein Freund sein.

 

"Hasaki", die helle Mädchenstimme schien zum Greifen nah, doch wechselte sie stets die Position als würde sie mich umkreisen. 

Immer wieder wirbelte ich herum und versuchte dem Mädchen zu folgen in dem Wald aus Kirschblütenbäumen in dem ich mich befand. Die rosafarbenen, kleinen Blätter rieselten leise vom Himmel welcher aus Baumkronen zu bestehen schienen und verfingen sich in meinem Haar und auf dem Boden. 

"Hasaki", lachte die Stimme und alles was ich noch entdecken konnte, waren die Spitzen der roten Haare, welche hinter einigen Bäumen verschwanden. 

Schnellen Schrittes folgte ich dieser Spur, doch dort angekommen war nichts zu sehen.

"Hasaki du musst mich fangen", lachte die Stimme hinter mir und als ich erneut herumwirbelte, war ich mir vollkommen sicher, dass sie es war.

"Hasu!", der Name kam mir schwer über die Lippen und dennoch rief ich ihr nach, während ich versuchte ihr zu folgen ohne sie zu verlieren. 

"Du kriegst mich nicht", lachte sie aufgeregt und huschte immer wieder zwischen den Bäumen hin und her als wäre das alles nur ein Spiel für sie. 

Wieso rannte sie weg? Wieso blieb sie nicht bei mir? Wieso musste sie wieder hier sein?

"Hasu, warte!", rief ich erneut, beinahe schon verzweifelt und bog hinter einem weiteren Kirschblütenbaum um eine Ecke und hielt ruckartig inne, als sich vor mir ein langer, steinerner Weg offenbarte, welcher von mehreren prächtigen Kirschblütenbäumen gesäumt war. 

Der Boden schien nass und spiegelte das Rosa der Bäume wider als würden sie auf einem Meer stehen. Am Ende des Weges weit entfernt von mir erkannte ich sie. Sie stand reglos da, das rote Haar offen und vom Wind zerzaust auf ihrem Kopf blickte sie mich an und lächelte. "Hasu", hauchte ich leise, geschockt von dem Umstand, dass sie zum Greifen nah war und dennoch so weit entfernt. 

Sie sah noch genauso aus wie damals. Das kleine Kind, mit den großen braunen Augen und der bleichen Haut. Sie schien keinen Tag gealtert zu sein. Abwesend tastete ich nach meiner rechten Hand auf der das Brandmal lag, welches einer Lotusblüte glich. 

Erschrocken blickte ich diese an als ich feststellte, dass sie ungewöhnlich klein war. Ich schien wieder in dem Körper meines neunjährigen Ichs zu sein. Die Panik stieg in mir auf als ich meinen Blick wieder zu Hasu hob, welche sich gerade umdrehte um wieder wegzurennen.

"Hasu!", schrie ich nun verzweifelt auf und wollte gerade zu ihr rennen, als sich das seichte rosa der Kirschblüten in tosende Flammen verwandelte. Äste brachen ab und fielen vor mich auf den Weg der mich zu Hasu führen sollte. 

Qualm. Ruß. Flammen. Hitze. Hasu!

"Hasu!", meine Kehle war staubtrocken, als ich in der Dunkelheit nach oben geschnellt war und ich mich in einem leeren Zimmer fernab von jeglichen Bäumen und Flammen wieder fand. 

Mein Körper war schweißgebadet und als ich mich suchend abtastete um mich zu vergewissern, dass ich aus diesem Albtraum aufgewacht war, befand ich mich auch wieder in meinem normalen 19-jährigen Körper. 

Keuchend ließ ich mich zurück auf den Futon fallen und starrte in die dunkle Schwärze über mir. 

Der Alkohol ließ mich noch immer glühen zusätzlich zu dem Albtraum, der mich wohl mein Leben lang heimsuchen würde. 

Abwesend hob ich meine rechte Hand vor mein Gesicht auf dessen Handrücken ich das Brandmal in Form der Lotusblühte erkannte. 

"Du bist nicht echt", hauchte ich leise ohne den Blick von der schemenhaften Narbe abzuwenden und versuchte ruhig zu atmen, während ich das feuerrote Haar im Augenwinkel, trotz Dunkelheit erkannte.

"Das ist gemein Hasaki. Ich hab dich nie allein gelassen", erklang die hohe Mädchenstimme, welche unverkennbar Hasu zuzuordnen war. 

Die kleine, verrußte Hand von dem Mädchen das neben mir saß umschloss meine zu große Hand welche ich noch immer anstarrte. 

Sie war weder kalt noch warm. 

Weder rau noch glatt. 

Denn sie war nicht da.

Sie war nur in meinem Kopf.


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